Als ein ganzer Eissportverein auswärts daheim war

Vor zehn Jahren hing das Schicksal des ESVK am seidenen Faden


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Zehn Jahre ist das her, gerade einmal zehn Jahre. Der ESVK hatte seine Heimat verloren und Weltuntergangsstimmung lastete bleischwer auf dem Kaufbeurer Eishockeysport, dessen Schicksal mit einem Mal nur noch am seidenen Faden hing. In einem beispiellosen Überlebenskampf aber zog der Traditionsverein mit einem gleichsam historischen Kraftakt seinen Kopf aus der Schlinge. Surreal wirkt das heute, wenn die rotgelben Fans längst wieder ausgelassen begeisternde Eishockeyfeste mit ihrer Mannschaft feiern. Seinerzeit aber stand der ESVK am Abgrund. Anno dreizehn. Als er auswärts daheim war. Für zehn lange Monate.

Rückblende in den Advent 2012. Noch zehn Tage bis Weihnachten. Für den Abend hat sich der Sportclub Riessersee zum südbayerischen Kräftemessen am Berliner Platz angesagt. Schon am Morgen um halb neun aber läutet auf der Geschäftsstelle das Telefon. Birgit Hampel hebt ab. Sie wird hellhörig. Erschrickt. Erblasst. Wie vom Donner gerührt, hält sie den Atem an. Die Stimme am anderen Ende der Leitung spricht von Schäden an der Bausubstanz der Eishalle, von deren sofortiger Sperrung und unverzüglichen Räumung.

Hastig holt Birgit Hampel die sich auf das Abendspiel vorbereitende Mannschaft vom Eis. Dann verständigt sie die Vereinsführung. Drüben im Büro unterrichtet sie Trainer Ken Latta und den Sportlichen Leiter Didi Hegen von der bitterbösen Überraschung. „Wir saßen zusammen und dachten, unsere kleine Welt würde untergehen,“ wird die Geschäftsstellenleiterin später einmal von der Ratlosigkeit der ersten Lagebesprechung mit den herbeigeeilten Vorständen erzählen, „keiner wusste, wie ihm geschah, und jeder hoffte vage, dass das alles nur ein Alptraum sein würde.“

War es aber nicht. Die Wirklichkeit hatte sich Schwerwiegendes ausgedacht – einen Keulenschlag, kam die Stadionsperrung doch der sofortigen Auslagerung des gesamten Trainings- und Spielbetriebs aller Mannschaften gleich. Von den Kleinsten bis zur Ersten. Damit aber nicht genug. Hinzu kam eine quälende Unruhe ob der ungewissen Zukunft. Lähmende Verunsicherung machte sich breit. Sprachlosigkeit. Tiefe Besorgnis. Wie würde es weitergehen? Und wo? Und wann? Würde es überhaupt weitergehen? Eine Lawine von kaum vorstellbarer Gewalt war im Begriff, mit voller Wucht ins Tal zu donnern und den Eissportverein Kaufbeuren unter sich zu begraben.

Das Stadion war gesperrt und es sollte gesperrt bleiben. Aus Tagen wurden Wochen. Aus Wochen wurden Monate. Zehn volle Monate, in denen sich immer deutlicher abzeichnete, dass es Spitz auf Knopf mit dem ESVK stand, sich der Traditionsverein unversehens dem nackten Existenzkampf ausgesetzt sah und auf das Schlimmste gefasst machen musste. Sein Überleben stand auf dem Spiel. Nicht mehr und nicht weniger.
Die Aufrechterhaltung des Spielbetriebs und die Austragung der Heimspiele in der Ferne geriet zu einer Kärrnerarbeit mit weitreichenden Folgen. „Wir mussten alles mitnehmen. Wirklich alles. Das fing mit dem Bleistift und dem Radiergummi an“, schüttelt Birgit Hampel ungläubig den Kopf, als würde sie sich das alles noch einmal selber erzählen müssen, um es auch tatsächlich zu verstehen, und sie würdigt alle, die sich einbrachten, um die beispiellose Auswärts-daheim-Tour mit Meisterschaftsheimspielen an der Loisach, an der Iller und am Lech zu einem Erfolg werden zu lassen. Die Fans, den Ordnungsdienst, den Bankdienst, die Leute vom Souvenirstand, die Organisatoren des Gastronomiebereichs, der in Anhängern zu den Veranstaltungsorten gekarrt wurde. Alle Mitarbeiter. Alle Helfer. Alle Ehrenamtlichen.

„In Kempten standen Petra Endler und ich bei klirrender Kälte mitten unter den ankommenden Zuschauern, um ihnen auf dem Stadionvorplatz Sitzplatzkarten aus der Hand zu verkaufen. Nach Spielbeginn bin ich immer ganz schnell in mein Auto gestiegen und nach Kaufbeuren gefahren, um dort in aller Eile die Abrechnung zu machen. Dann ging es unverzüglich wieder zurück an den Spielort, da ja nach der Schlusssirene alles wieder abgebaut und eingepackt werden musste. Wir waren wie Vagabunden. Geschafft haben wir es aber trotzdem. Kein Spiel ist ausgefallen“, erzählt Birgit Hampel aus einer Zeit, als ein ganzer Eissportverein weit über seine Grenzen hinausging.

Ein verwirrendes Wechselbad der Gefühle hatte den ESV Kaufbeuren heimgesucht. Niedergeschlagenheit, Zweifel und Überlastung blähten sich bedrohlich auf, immer wieder aber obsiegte der unbeugsame Wille, sich nicht unterkriegen zu lassen. Der ESVK hielt zusammen. Er half sich selbst. Zog sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf. Und trotzdem. Ohne Unterstützung aus der Nachbarschaft wären in einer der schwersten Stunden seiner langen Vereinsgeschichte alle Mühen vergeblich gewesen und die Lichter ausgegangen. Schließlich hatte der Verein sein Zuhause verloren. Er brauchte dringend einen Unterschlupf und er erfuhr Hilfsbereitschaft. Garmisch-Partenkirchen, Memmingen, Kempten und Landsberg sprangen als Spielstätten für die erste Mannschaft ein, aber auch Buchloe, Türkheim, Bad Wörishofen, Füssen und Augsburg kamen dem Kaufbeurer Eishockey weit entgegen. Trotz erschöpfter Hallenkapazitäten. Man nahm es, wie es kam. Beim Verein und bei den Spielern, die strapaziöse Wege auf sich nehmen und ihre Ausrüstungsgegenstände in mitunter kleinen Wohnungen ausbreiten mussten. Training für Training. Spiel für Spiel. Zehn Monate ging das so. Zehn lange Monate. Eine Zeit, die ans Eingemachte ging und an der Substanz nagte. Ein Kraftakt. Ein Härtetest. Von den Bambini hinauf bis zu den Profis, von den Ordnern bis zur Vereinsführung. Die Gegenwart verschüttet. Düster die Zukunft.

Nicht jeder Eissportverein hätte das ausgehalten. Manch einer wäre zerrieben worden. Zerbrochen. Nicht der ESVK, der am Boden lag. Wieder aufstand. Sich gegen die Katastrophe stemmte. Durchhielt. Standhaft. Unbeugsam. Entschlossen. Getragen von einer tiefen inneren Kraft. Eishockeyhochburg Kaufbeuren. Eishockeyverrücktes Allgäu.

Zum Durchschnaufen aber blieb keine Zeit. Und zum Kraftschöpfen auch nicht. Dafür aber sprudelte eine andere Quelle. „Das alles war nur gemeinsam zu schaffen“, wird Birgit Hampel nicht müde, den Kaufbeurer Zusammenhalt hervorzuheben, und ihr huscht ein Lächeln übers Gesicht. Vielleicht aus Erleichterung. Vielleicht aus Dankbarkeit. Vielleicht aus Stolz auf ihren ESVK. „Alle haben bemerkenswertes Durchhaltevermögen bewiesen. Von den Kindern und ihren Eltern, von den Trainern und Betreuern bis zum gesamten Vorstand, der sich voll in den Dienst des ESVK stellte und an einem Strang zog. Karl-Heinz Kielhorn und Kurt Dollhofer haben sich eingebracht und Andi Settele hat trotz seines Herzinfarkts gekämpft wie ein Löwe. Vielleicht hat er phasenweise sein Leben aufs Spiel gesetzt.“

Im Grunde war die Lage beinahe aussichtslos gewesen in jenem Januar dreizehn. Der in seinen Grundfesten erschütterte Eissportverein von der Wertach ist aber trotzdem nicht untergegangen. Er hat die Herkulesaufgabe geschultert. Sich durchgebissen. Es hingekriegt. Es gepackt. Schritt für Schritt. Obwohl die Beine oft schwer wurden mit dem bleiernen Rucksack auf dem schmerzenden Rücken. Aus vielen kleinen Schritten wurde schließlich aber immer wieder auch ein großer – nicht zuletzt, weil seine treuen Anhänger eisern hinter ihrem ESVK standen, ihm viele Sponsoren nicht von der Seite wichen und sich auch die Stadt tatkräftig einbrachte mit der kostspieligen Ertüchtigung der maroden Eishalle. „Das erste Heimspiel gegen Dresden war ein irrer Moment“, hebt Birgit Hampel mit stockender Stimme den 18. Oktober 2013 hervor, als der ESV Kaufbeuren nach dreihundertacht Tagen im Exil an seinen Berliner Platz zurückkehrte. „Die Eislöwen waren schon längst mit dem Bus unterwegs ins Allgäu, da haben wir noch auf die Abnahme der durch die Stadt Kaufbeuren teilsanierten Halle gewartet. Als die Freigabe bis 2017 dann erfolgte, fiel von uns allen eine Zentnerlast ab. Das war ein wahnsinnig emotionales Erlebnis. Wir waren wieder daheim.“

Vorübergehend, wohlgemerkt. Schließlich klebte auf der altehrwüdigen Kultarena ein Etikett mit eng begrenztem Haltbarkeitsdatum. Und zu allem Überfluss sollte auch der Weg zum Neubau einer modernen Eishalle ein steiniger werden. Das aber ist schon wieder eine andere Geschichte.

Ein Gastbeitrag von Manfred Kraus.

Foto: ESVK/PB

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